Singapore – Don’t be cheebye

Don’t be Cheebye
(heißt in Singapur so viel wie: Sei kein Weichei)

Fischköpfe kannte ich bislang als Deko auf Markständen und aus der traditionellen kongolesischen Küche. In Singapur begegnete ich ihnen als Delikatesse. Wenn sie, ja wenn sie fachgerecht zubereitet werden. Bis ich das lernte, überlebte ich im Flugzeug einen bulligen und nach Hopfen riechenden Mann. Er lehrte mich, im Nachbarsitz durch sein halb unterdrücktes Bierhochwürgen, ein nicht nachzuvollziehendes Gefühl von Zärtlichkeit.

Und dann war da noch die Frau im Sitz hinter mir. Sie machte mir durch die Armlehne hindurch deutlich, dass sie mir nahe sein wollte. Ohne ihre etwas zu langen Fußnägel hätte sie das nicht geschafft. Am Flughafen erwartete mich Chen Zhencai. Der 19-Jährige Singapurianer ist das Power Horse vom Team Fixup Yourgear in Singapur. Er sollte und wollte mich für die kommenden zwei Wochen unter seine Fittiche nehmen. Seine Art das zu tun, erinnerte mich an eine liebende Vogel Mama, die ihr Kleines beschützt. So erlebte ich, wie nahe Fürsorge und Kontrolle beieinander liegen. Und welch hohes Gut die Freiheit ist. Wer jemals darüber nachdenken sollte, ob er sich einen maßgeschneiderten Anzug aus Asphalt schneidern lässt, sollte eine Reise nach Singapur in
Erwägung ziehen. Dort ist der anthrazitfarbene Straßenbelag nicht nur sauber, sondern rein! In solch einer Stadt ist es allerdings auch nur erlaubt Kaugummi zu kauen, wenn ein Rezept vom Arzt vorliegt. Und wer erwischt wird, wie er seine Kippe auf dem Pflaster ausdrückt, muss mit 250 Euro als Bußgeld rechnen. Die Behörden meinen das sehr ernst und sorgen mit allgegenwärtigen
Überwachungskameras und mancherlei Mitarbeitern der Polizei in Zivil dafür, dass in der 5,5 Millionen Republik das Regelevangelium auch wirkungsvoll umgesetzt wird.

Immer wieder sind es Radfahrer wie Chen Zhencai, die davon ein Lied singen können. Da er sein Leben lang hier lebt und fährt, weiß er natürlich auch was Sache ist. Tatsächlich hält sich jeder hier an Regeln. Aber für viele der Autofahrer gehören Radfahrer nicht ins Straßenbild. Hier wird mal gehupt, hier mal hart geschnitten, dort beschimpft. Zhencai macht das hilflos und wütend: „Wenn du
Glück hast, fährt dich ein Taxifahrer um und ruft dann noch die Polizei. Denen berichtet er, dass du über rot gefahren bist. So bekommst du die Rechnung und der Taxifahrer ist glücklich.“ Einige der Jungs der hiesigen Fixed-Gear-Szene haben eben diese Erfahrung gemacht. Ein Mann der dafür sorgen will, dass Singapur fahrradfreundlicher werden soll ist Jeffrey Goh. Seit Oktober ist der IT Spezialist auch Vorsitzender der Singapore Cycling Federation. Er wolle nochmal einen Gang raufschalten, um familienfreundliche Radevents auf den Weg zu bringen. Wenn es nach Goh ginge, habe die kleine Republik das Zeug zu einer Fahrradnation. Für diese ehrgeizigen Ziele hat der Firmenchef eines Unternehmens für bargeldlosen Zahlungsverkehr 24 Monate Zeit. Dann wird neu gewählt.
Inzwischen treffen sich Chen Zhencai und seine Freunde an Eric Khoos Laden. Dort begegnen sich die Jungs der Szene. Ein paar Dutzende sind es vielleicht, die hier ohne Gangschaltung und Bremsen durch die Gegend fahren. „Natürlich sei das gefährlich“, grinst Chen, „ aber du musst es eben drauf haben. Beim Snowboarden brechen sich doch auch jedes Jahr Leute die Knochen und
niemand kommt auf die Idee es zu verbieten.“ Versteckt und doch stadtbekannt liegt der Laden von Eric. Hier arbeitet, wohnt
und schläft er. Der freie Markt bietet ohne mit der Wimper zu zucken 20qm Studios für 1000 Euro und mehr an. Nur wer verheiratet oder über 40 Jahre alt ist, erfährt die Segnungen des staatlichen Wohnungsbaus. Erics Kollektion an Cinelli Räder ist beachtlich. Seit 2011 ist er mit dem Laden am Start. Fahrradfreak ist er schon länger. Mut gemacht hat ihm der Besuch von Antonio Colombos. Der grauhaarige Mailänder liebt Kunst und Fahrräder. Im Jahre 2013 wollte er doch einmal selber sehen wer dieser Eric Khoo war, der seine Marke verkaufte. Colombo kam zum ersten Rennen an einem Septemberabend. Nicht ein einzelner Penny wurde hier verdient und das war auch nie die Absicht der beiden Veranstalter. Das ganze Startergeld wurde an die Gewinner verteilt. Sie hatten keine Genehmigungen, wollten aber die Sicherheit aller Beteiligten gewährleisten. So hatten Eric Khoo und sein Freund, der Eventmanager Zul Awab eine Idee. Zwei Wochen lang überwachten sie ihre Strecke kontinuierlich. Sie wollten wissen, wieviel Verkehr nachts noch herrschte. Und siehe da: nicht ein einziges Auto, Motorrad oder Fußgänger war zu sehen. Außerdem wurden beim Rennen an jedem gefährlichen Spot Freiwillige positioniert, die mit Walkie Talkies und Warnlichtern den Verkehr regeln sollten. Und Khoo freute sich über das Lob von Antonio Colombo. „Sehr beeindruckt war er über unser Engagement, die Organisation und die Qualität unser Arbeit“, erinnert sich Khoo heute. So kam es auch bei allen sieben Rennen zu keinen nennenswerten Unfällen. Kein Teilnehmer musste ärztlich oder stationär im Krankenhaus behandelt werden.
Chen und seine Freunde kennen diese Geschichten schon und wissen wie sie weitergehen wird. Sie wollen noch eine Runde drehen. Und wie in den meisten warmen Ländern dieser Welt beginnt das Leben erst abends bzw. nachts. Unfassbar viel Verkehr und Menschen sind unterwegs. Aber wie wir alle wissen, ist man mit dem Rad schneller unterwegs. Sie schlängeln sich überall durch. Zwar fährt bei 90% Luftfeuchtigkeit und 30 Grad keiner mehr einen 46er Schnitt. Doch darum geht es aber auch nicht. Am Ende der Stadt drücken sie ihre Räder den Mount Faber hoch. Singapurs Hausberg ist ungefähr so hoch wie ein Fußballfeld lang ist. Die Tour führt durch Regenwald. Es ist wie im Tropenhaus. Kennt ihr das, wenn ihr ein Foto von einer richtig langen Straße oder einer schön geschwungenen Serpentine seht und euch denkt: Shit da will ich lang ballern? So eine Straße ist der Mount Faber Loop! Keiner der Jungs ist so richtig viel über 20 Jahre. So gehen sie noch in ein indisches Restaurant. Es ist drei Uhr nachts und es gibt Durian. Diese Frucht erinnert mit seinen Spitzen an ein Kampfgerät aus dem Mittelalter. Die Frucht schmeckt nach Blauschimmelkäse, bloß süßlicher. Also, richtig lecker!

Khoo und Awab freuen sich daran, wenn Jugendliche fixed gear fahren. Es ist ihr Beitrag, Jugendlichen eine sinnvolle und herausfordernde Beschäftigung zu vermitteln. Extremsport ist eben eine echte Alternative zu Gangstertum und Zocken vor dem PC. So war ihr Rennen im September auch nicht ihr letztes. Aber an das an der Tanglin Halt Road im November 2013 erinnern sie sich. 32 Fahrer hatten sich für das Rennen gemeldet. Es war eine halbe Stunde vor Mitternacht und die Wohnblocks des Viertels dämmerten in der Schwüle der Nacht vor sich hin. Bevor die Wettkämpfer richtig Fahrt aufnehmen konnten
nahm der Abend eine dramatische Wendung. Es ging alles sehr schnell erinnert sich Awab: „Irgendjemand hat die Polizei angerufen. Die kamen auch und haben uns verhaftet!“ Doch kamen die beiden nicht mit einem Knöllchen wie beim falsch Parken davon. Es drohten ihnen zwei Jahre Haft und Stockhiebe.
Prügelstrafe wird seit der Kolonialzeit in Singapur angewendet. Einer, der sie am eigenen Leib erlebt hat ist Neville Tan. Seine Gewalttätigkeit brachte ihm den Spitznamen Iron Man ein. Dann vollzog sich im Leben des heute 75-Jährigen eine radikale Wende. Niemand hatte das kommen sehen. Niemand hatte damit
gerechnet. Der Mann aus Eisen entschied sich für ein Leben mit Gott. Als Pastor berät er heute auch Strafgefangene. Und er gehört zu denen, die über diese schmerzhaften Erfahrungen auch redet. Sie sind ihm noch deutlich vor Augen. „Am schlimmsten waren für mich die Zeit vor den ersten Schlägen. Du hast ja keine Ahnung davon, was dich erwartet“ erklärt der Gründer der Church of God in seiner Heimat Singapur, „ und natürlich tut es weh. Aber das geht auch bald wieder vorbei“.

Für Eric Khoo und Zul Awab ist die Ungewissheit erdrückend. Am nächsten Tag steht wieder eine Vorladung an. Angst hat Eric jetzt nicht mehr: ‚Nein“, sagt er,“ Ich erwarte die Strafe jetzt schon zu lang. Sie werden ein Exempel an uns statuieren. Mich macht es traurig und wütend, dass der Staat Singapur anstelle zu fördern sich dazu entscheidet eine Szene zu zerstören oder es zumindest versucht.“ Die Polizisten im Bukit Timah Neighbourhood Police Centre sind nicht unfreundlich. Aber sie geben wortlos zu verstehen, dass sie einer Diskussion keinen Millimeter an Raum geben würden. Hier ist das Gesetz das höchste Gut, daran wird nicht gerüttelt. Khoo und Awab sind keine Outlaws oder Robin Hoods der Radlerszene. Konflikte mit dem Gesetz kann und will sich Awab als Vater von vier Kindern auch nicht leisten. Mit der Förderung seiner Art des Radsports will er etwas bewegen:
„Meine Absicht ist es, mit dem Sport einen Beitrag zu leisten, Kids von der Straße freizuhalten“. Rücksichtslosigkeit und Leichtsinn liegen dem 40 Jährigem Familienmenschen fern: „Selbstverständlich haben wir Spaß am Fahren. Aber Sicherheit spielt für uns eine große Rolle. Wir möchten nicht, dass sich jemand ernsthaft weh tut.“
Zul Awab wünscht sich wie sein Mitstreiter Eric Khoo lediglich Spielräume und Verhandlungen. Doch danach sieht es aktuell nicht aus. Diese Sichtweise ist der Verwaltung fremd. Aus dem Blickwinkel der Uniformierten ist der Mann mit dem glattrasierten Kopf vor ihnen lediglich das Aktenzeichen Zulkifli Bin Awab,NRIC No.S 754A45 A., das gegen Paragraph 116 (1 und 7), Abschnitt 271, sowie Paragraph 143 (1 und 7) Abschnitt 276 und Paragraph 131(2) der Straßen Verkehrsordnung verstoßen hat. Und dieses mehrmals. Immer an unterschiedlichen Orten, aber in jedem Falle um 23:30Uhr. Das sagt jeder einzelne Buchstabe der insgesamt 40 Seiten langen Anklageschrift. Das verstehen die beiden Radsportentusiasten der asiatischen Metropole durch. Doch sie verstehen nicht, dass ihre Holy Crits undurchführbar sein sollen. Es geht in Mailand. Es geht in New York. Und es geht in Barcelona. “Es hat sich bei uns noch nicht durchgesetzt”, erzählt Khoo,” aber wir wollten unser eigenes Format haben“. Doch Khoo kommt nicht umhin, seine Begeisterung zu erden: „Es war wohl zu viel Wunschdenken dabei. Wir hätten Kräfte gebraucht, die nötig sind, um Berge zu versetzen. Das war mein Ding Nr.1“. Das Ende der erneuten Vorladung ist es dennoch nicht, erst am 23. Dezember diesen Jahres erhalten die beiden Männer ihre endgültige Bestrafung, zuzüglich der über 2000 Euro, pro Person. Damit sind sie die ersten, der Welt, die für eine Radrennveranstaltung verklagt werden. Vor dem Wohnzimmer der Fixed Gear Community wird geraucht, geschraubt, gelacht, kumpelhaft beleidigt und dann fährt man 50 Meter weiter um Milchtee zu
trinken und auf noch mehr Menschen zu warten. Von hier aus wird immer die jeweilige Route der Nacht besprochen. Für diese Aufgabe sind meistens Eric, Zul oder Jamal ‚Wingman‘, von den 60/40 Messanger, zuständig. Ein Nightride durch Singapur kann sich zwischen 2 und 5 Stunden bewegen. Für 5 Stunden muss
man allerdings entweder langsam fahren oder man ist zweimal um Singapur herum gefahren. Die Strecke zwischen der Arabstreet, der F1 Strecke, den Pubs, Clubs, Banken Distrikt, Chinatown bis zum Mount Faber Park braucht man in etwa einer halbe Stunde. Deswegen wird jede Gasse und jeder Straße
mitgenommen um nicht schon um halb 12 zuhause sein zu müssen. Um 4 Uhr nachts gibt es dann das obligatorische Abendessen: Froschenkel paniert, Fischlungen in Suppe oder Muslim Food. Letzteres bedeutet weniger, dass es ‚halal‘ ist, als dass es weder europäisch noch chinesisch ist. Je später es wird umso mehr Handys werden gezückt und weniger geredet. Dann fahren alle wieder zu Erics Haus, bzw. seinem Fahrradladen. Hier werden die letzten Reserven mit Kippen und Blödsinn verbraucht, dann geht es ab nach Hause.
Diese Abende sind aber meist nur an Wochenenden. Unter der Woche bleibt es größtenteils ruhig und jeder fährt für sich allein. Aber um nicht ganz einsam seine Woche zu verbringen zu müssen, trifft man sich auch mal zum Fußball spielen, geht in die Mall oder hängt an der Kor Halus Bridge ab und trainiert seine skidding und trackstand skills. Auch Chen Zhencai macht sich auf den Weg nach Sengkang, in den Norden der Stadt. Zurück in die Welt der einander ähnelnden Wohnblocks, an denen die Parteikader der DDR sicher ihre Freude gehabt hätten. Sie strahlen einen wenig inspirierenden und uniformhaften Charme aus, der tagsüber durch den allgegenwärtigen Smog noch verstärkt wird. Chen besucht das Institute of
Technical Education, will aber eigentlicher Radfahrer werden. In der Elektrotechnik bestünde der Plan B. Ob Jeffrey Goh, der neue Vorsitzende der Singapore Cycling Federation als Wegbegleiter eine Hilfe sein kann, muss sich noch beweisen. Er selber sieht sich als Integrationsfigur von allen, die sich mit Begeisterung auf zwei Räder und ohne Motor fortbewegen. Erste Gespräche stellt Mahipal Singh, Geschäftsführer des Verbandes, in Aussicht: „Für das Frühjahr 2016 planen wir ein Event, indem auch Fixed Gear Fahrer einen Platz finden sollen“. Das schließt Sicherheitsüberlegungen zwingen ein. Und: man muss sich kennenlernen.
Schließlich gehört die Fixed Gear Community nicht unbedingt zur Gentlemanfraktion des Radsports. Aber vielleicht wären sie doch eine Prise Chili in der Suppe eines fast 60 jährigen Verbandes und täten dem einfach gut! Und deshalb sollten sie die ausgestreckte Hand der Vätergeneration unbedingt
annehmen. Fakten zu Singapur, da vermutlich die wenigsten von uns eine Ahnung von diesem Insel- und Stadtstaat und der flächenmäßig kleinste Staat Südostasiens haben, gibts hier einen kleinen Geographie Exkurs.
Aufgrund des kolonialen Hintergrunds und des internationalen Geschäftslebens ist Englisch die meist gesprochene Sprache. Allerdings wird unterhalb der Einheimischen ein Mischmasch aus Malai, Chinesisch und Englisch gesprochen.

5,5 Millionen Menschen, mit wachsender Tendenz, leben in Singapur. Darunter gibt es unterschiedliche Ethnische Gruppen. Mit 76,8 Prozent ist die Chinesische Bevölkerung die größte. Danach kommen Malaien, Inder und weitere. Außerdem befinden sich derzeit um die 1,2 Millionen Gastarbeiter in Singapur. Ethnische Statistiken hierzu werden nicht veröffentlicht. Die Temperatur liegt zwischen 23 und 32 °C. Regentage bis zu 19 im Jahr. Die Luftfeuchtigkeit bis zu 87 Prozent (erlebt habe ich aber auch mehr). Die Luftverschmutzung während Juli und Oktober ist extrem Hoch (für Deutsche Verhältnisse das ganze Jahr hindurch). Die PSI Werte (Pollutant Standards Index-Luftschmutzung) liegen in den guten Zeiten zwischen 51-100 (wird als Moderat angegeben), doch meistens bewegen sich die Werte zwischen
Ungesund (101-200) und sehr ungesund (201-300). Über 300 darf man zuhause bleiben. Die Regierung drückt die Werte allerdings nach unten um die Menschen bei der Arbeit zu halten. Dieser Haze kann zu Lungen-und Herzerkrankungen führen.
Ein großer Verursacher der Luftverunreinigung ist Indonesien, der durch die
Verbrennung des Urwalds die Luft verpestet.

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